Volleyball lebt von Struktur – aber gespielt wird oft im Chaos. Sobald der perfekte Pass ausbleibt, beginnt die sogenannte Out-of-System-Situation. Jetzt wird es unübersichtlich: Die Angreifer:innen müssen improvisieren, Zuspieler:innen werden zu Läufer:innen, und jeder im Team muss Verantwortung übernehmen. Genau hier zeigt sich, wie gut ein Team wirklich ist.
Doch wie trainiert man diese oft vernachlässigten Spielsituationen sinnvoll? In diesem Artikel erfährst du, warum Out-of-System-Situationen so wichtig sind, wie du sie gezielt im Training einbaust und welche Techniken und Übungen dich und dein Team besser auf das Unvermeidbare vorbereiten.
Was bedeutet „Out of System“?
Von einer Out-of-System-Situation spricht man, wenn der Spielaufbau nicht wie geplant verläuft – meist nach einem schlechten ersten Ballkontakt (Annahme oder Abwehr). Die Zuspielposition ist ungünstig, der Zuspieler oder die Zuspielerin ist eventuell gar nicht am Ball, und eine geplante Angriffsstruktur ist nicht mehr umsetzbar. Improvisation ist gefragt.
Beispiele:
- Die Annahme landet nahe der Seitenlinie oder in der Abwehrzone.
- Der Zuspieler muss selbst baggern oder ist durch einen Block gebunden.
- Außenangreifer:innen oder Libera müssen das Zuspiel übernehmen.
Viele Teams trainieren fast ausschließlich im System, also mit gutem Pass, perfektem Zuspiel und eingespielter Rotation. Das ist wichtig – aber wer nur im Idealzustand glänzen kann, wird im Spiel Probleme bekommen. Denn Out-of-System-Situationen kommen regelmäßig vor, selbst auf hohem Niveau.
Warum ist das Training von Out-of-System-Situationen so entscheidend?
- Realitätsnähe: In jedem Spiel gibt es mehrere solcher Szenen – sie entscheiden oft über Sieg oder Niederlage.
- Flexibilität: Teams, die in chaotischen Situationen stabil bleiben, gewinnen an mentaler Stärke und Selbstbewusstsein.
- Rollensicherheit: Wenn auch andere Spieler:innen ein sicheres Zuspiel geben können, wird das Team weniger abhängig vom Zuspieler oder der Zuspielerin.
- Technik & Kommunikation: Improvisierte Situationen fördern die Kommunikation und verbessern technische Allround-Fähigkeiten.
Prinzipien für effektives Out-of-System-Training
Bevor du Übungen planst, solltest du einige Grundprinzipien für dieses Training verinnerlichen:
1. Alle müssen zuspielen können
Im Out-of-System kann jede:r zum Zuspieler oder zur Zuspielerin werden – Außen, Libero, sogar Mittelblocker:innen. Deshalb: Baggerspiel und Läuferzuspiel regelmäßig mit allen trainieren!
2. Klarheit in der Kommunikation
Wer übernimmt das Zuspiel, wenn der Zuspieler oder die Zuspielerin den ersten Ball spielt? Wer wird als Not-Anspielstation priorisiert? Diese Abläufe müssen klar sein – und im Training immer wieder durchgespielt werden.
3. Zielgerichtetes Zuspiel auch aus schlechter Position
Ein sicheres Zuspiel im Sprung oder im Bagger, das die Angreifer:innen trotzdem in eine gute Situation bringt – das ist die Kunst. Dabei kommt es weniger auf den perfekten Ball an als auf: Timing, Höhe, Lesbarkeit.
4. Fehler zulassen
Out-of-System bedeutet Unsicherheit. Spieler:innen dürfen hier mehr ausprobieren. Fehler sind erlaubt – solange sie zu Lernprozessen führen. „Perfektionismus“ hat hier keinen Platz.
Übungsideen für Out-of-System-Training
Hier sind einige praktische Übungsformate, die sich leicht in jedes Training einbauen lassen – auch für Jugend- und Amateurteams.
1. Chaos-Annahme mit Positionswechsel
Ziel: Simulation schlechter erster Ballkontakte + spontane Rollenübernahme
Ablauf:
- Coach wirft oder schlägt unplatzierte Bälle ins Feld (z. B. in die Ecken).
- Der/die Zuspieler:in darf den Ball nicht berühren.
- Andere Spieler:innen müssen den Ball retten und den zweiten Ball stellen.
- Dritter Kontakt ist ein gezielter Angriff (nicht nur rüberbumpen!).
- Nach jedem Durchgang: Wechsel der „Zuspielrollen“.
Variation: Punktewertung für Angriffe, die trotzdem zu einem Punkt führen.
2. Zuspiel-Duell: Wer bringt den besseren Not-Ball?
Ziel: Techniktraining für Baggerzuspiel / Sprungzuspiel unter Druck
Ablauf:
- In 2er-Teams: Spieler A baggert einen Ball für Spieler B – aber aus 6 Metern Entfernung (simuliert schlechte Annahme).
- Spieler B muss daraus ein verwertbares Zuspiel machen (Bagger oder Sprungzuspiel).
- Wer bringt den Ball näher ans Netz / auf die optimale Angreiferposition?
- Trainer:in bewertet oder misst das Ergebnis.
Variation: Zuspiel auf eine „statische“ Angreifer:innenposition zur Vereinfachung.
3. Out-of-System-Only-Spiel
Ziel: Gewöhnung an „schlechte Situationen“ als Spielstandard
Ablauf:
- 6 gegen 6, aber jedes Team darf den Zuspieler/die Zuspielerin nicht den zweiten Ball spielen lassen.
- Das Zuspiel muss also von einer anderen Person übernommen werden.
- Angreifer:innen werden bewusst gezwungen, mit unsauberen Bällen zu arbeiten.
- Nach 10 Minuten oder 15 Punkten Wechsel der Vorgaben.
Effekt: Alle lernen, dass ein nicht perfektes Zuspiel nicht das Ende eines Spielzugs ist. Kreativität wird gefördert.
4. Balljagd: Von der Annahme in die Out-of-System-Transition
Ziel: Schnell denken & reagieren nach unkontrollierten Bällen
Ablauf:
- Coach startet mit einem harten Aufschlag oder Angriff.
- Annahme gerät absichtlich ins Chaos (z. B. durch gestellte schlechte Pässe).
- Team muss schnell umschalten und den Ball im Spiel halten – Ziel: gezielter Angriff.
- Fokus liegt auf Kommunikation, Einhalten der Zuständigkeiten, und Reaktion auf das Unerwartete.
Out-of-System im Jugendtraining
Gerade im Jugendbereich kommt es besonders häufig zu Out-of-System-Situationen – sei es durch unsaubere Annahmen, Unsicherheit im Zuspiel oder mangelnde Erfahrung im Positionsspiel. Viele Trainer:innen tendieren dazu, den Fokus zunächst auf technische Perfektion zu legen, was absolut sinnvoll ist. Doch genau deshalb lohnt es sich, frühzeitig auch das Spiel „außerhalb der Struktur“ zu trainieren.
Warum das wichtig ist:
- Frühe Rollenerfahrung: Wenn Kinder und Jugendliche lernen, flexibel zu agieren, stärkt das ihr Spielverständnis. Sie entwickeln ein Gefühl dafür, wann sie Verantwortung übernehmen müssen – z. B. beim Zuspiel.
- Fehlerkultur etablieren: Jugendliche lernen durch Fehler. Out-of-System-Training erlaubt „unperfekte“ Aktionen – und zeigt, dass man trotzdem erfolgreich sein kann.
- Technikvielfalt fördern: Spieler:innen, die früh lernen zu baggern, zu laufen und kreativ zu spielen, entwickeln sich später zu Allrounder:innen mit Übersicht.
Praktische Tipps für Jugendtrainer:innen:
- Klare Zuständigkeiten früh einführen: Wer übernimmt das Zuspiel, wenn der Zuspieler oder die Zuspielerin den ersten Ball spielt? Klare Absprachen (z. B. „Libero übernimmt immer“) helfen, Chaos in Lernchancen zu verwandeln.
- Erfolg sichtbar machen: Lobt nicht nur Punkte, sondern auch gute Entscheidungen – z. B. wenn ein:e Jugendspieler:in nach einem schlechten Pass ruhig einen sicheren Bagger spielt.
- Technik kindgerecht erklären: Zeigt z. B., wie man aus einem „schlechten Ball“ einen „guten hohen Ball zur Außenlinie“ macht – visuell, mit einfachen Begriffen.
- Kurze, spielnahe Übungen bevorzugen: Jugendspieler:innen lernen am besten im Spielkontext. Weniger isolierte Technikübungen, mehr Szenario-Training.
Übungsbeispiel für die Jugend:
Übung: Chaos mit Plan
- Drei Spieler:innen in der Annahme (Positions- und Rollentausch nach jedem Durchgang).
- Trainer:in gibt einen unplatzierten Aufschlag oder Wurf.
- Ziel: Ball im Spiel halten – dabei darf jede:r den zweiten Ball spielen, außer dem Zuspieler oder der Zuspielerin.
- Dritter Ball muss über das Netz – egal wie, aber möglichst mit gezielter Richtung.
- Bewertet wird: Kommunikation („Ich hab!“, „Außen!“), Entscheidung und Ausführung – nicht Perfektion.
Diese Art von Übung bringt Spaß, ist dynamisch und fördert genau das, was viele Jugendteams am Anfang brauchen: Entscheidungsfreude, Verantwortung und Kreativität.
Coaching-Tipps für Trainer:innen
- Wiederholung + Variation: Übungen mehrmals durchspielen, aber immer mit kleinen Änderungen (Positionen, Ballwege, Zeitdruck).
- Lob für kreative Lösungen: Auch wenn der Angriff nicht perfekt ist – belohne gute Entscheidungen und Lösungen im Chaos.
- Videoanalyse nutzen: Gerade bei Out-of-System-Situationen lohnt sich ein zweiter Blick: Wer übernimmt? Wie sieht das Zuspiel aus? Welche Optionen gibt es?
- Selbstvertrauen fördern: Spieler:innen müssen sich trauen, den Ball zu übernehmen – auch wenn’s nicht ihre Primäraufgabe ist.
Fazit: Meisterschaft im Chaos
Wer Out-of-System trainiert, trainiert nicht nur Technik – sondern auch Mentalität. In der Lage zu sein, aus einem „schlechten“ Ball einen Punkt zu machen, ist eine Kernkompetenz moderner Volleyballteams. Denn oft entscheidet nicht der perfekte Spielzug, sondern der improvisierte Angriff nach einem Chaosball über den Ausgang eines Satzes.
Also: Raus aus der Komfortzone! Lasst das System auch mal los – und werdet stärker, genau da, wo andere wackeln.